Wasser

vom 15.03.2025

Wasser

Unsere Welt. 2050. Verloren. Der Mensch hat seinen Fingerabdruck unabänderlich unserem Planeten eingebrannt. Die Warnungen der Wissenschaftler und Forscher wurden ignoriert – und in der Folge wurde die prophezeite Katastrophe epischen Ausmaßes noch um ein Vielfaches übertroffen. Alle Prognosen und Szenarien waren weit von dem entfernt, was wirklich passieren sollte: Der deutlich früher erreichte Kipppunkt im Atlantischen Ozean stieß binnen weniger Wochen wie ein Dominostein angrenzende Ökosysteme um. Nicht einen. Nicht zwei. Alle. Es verbreitete sich rasend schnell. Pflanzen verödeten. Tierarten starben der Reihe nach aus. Wir konnten nur ohnmächtig Zusehen. Ein nimmersatter Tod fraß sich durch die Kontinente – und ist bis heute nicht gesättigt.

Neugeborene gibt es nicht mehr. Als die anpassungsfähigste und robusteste Spezies des Planeten hält der Mensch in dieser selbstgemachten Hölle noch durch – selbst gejagt von alten und neuen Krankheiten, alten und neuen Feinden. Das letzte Zeitalter der Menschen schreitet konsequent und qualvoll voran. Das Leben ist fort. Unsere Erde schwebt sterbend im All – so wie die überheblichen Verursacher namens Menschheit.

Die Sonne brennt gnadenlos vom wolkenlosen Himmel herab. 75 Gerons  bei Tageslicht sind eher Durchschnitt. Der Boden ist rissig und vertrocknet. Schon lange gibt es keinerlei Niederschlag mehr. Und mit der unendlichen Trockenheit kam die Wasserknappheit. Niemand erinnert sich noch an Kriege um Einfluss, Territorien, das schwarze Öl oder wer den besseren imaginären Freund besäße. Anfangs gab es noch ein gewisses Maß an Ordnung und Vertrauen in das System. Die Regierungen waren um Kontrolle und Körpersprache bemüht. Sie propagierten eine nahende, weltweite Lösung. Die Bevölkerung hielt durch und glaubte daran. Doch mit der Zeit schwiegen ihre Vertreter immer lauter. Und eines Tages waren sie fort.

Eines nachts entzündete sich purer Hass an einer der vom Militär eingerichteten Trinkwasserrationsausgaben. Jemand schoss. Dann fielen viele Schüsse. Unzählige Menschen starben. Brände wurden gelegt, die sich rasant ins Stadtzentrum ausbreiteten. Sie säumten die überbevölkerte Metropole und verschlangen in ihrem synthetischen Dasein alles und jeden. Plünderungen. Vergewaltigungen. Exzesse aus Gewalt. Fanatiker mit Blutopfern. Kannibalismus. Endloses, sinnloses Morden. Es gab unzählige Täter. Und noch weit mehr Opfer. Der Nachthimmel war hell erleuchtet. Glut, Asche, Rauch und der widerliche Geruch von verbrennendem Menschenfleisch – ein Inferno sondergleichen. Die Schreie waren endlos. Der Tod höchstselbst, so erzählt man sich, soll die Pforten zur Hölle in dieser Nacht lachend aufgestoßen haben. Die Alten nennen diese Nacht „Red End“.

Jeder Schritt auf diesem toten Planeten wirbelt feinen Sand empor. Der Untergrund ist aus unzähligen, alten Skeletten von Menschen oder Tieren, welche sich einst hier einfach niederlegten, um ihrem Tod in der Kapitulation zu begegnen. Die Knochen, in denen sich vom Wind getriebene Stoff- und Müllreste gefangen haben, sind stark vertrocknet. Sie zerbrechen knackend unter Belastung. Als würde man durch eine Gruft waten – hier, in der einstigen Oase des blühenden Lebens dieser so großen Metropole.

Die Atemluft. Sie ist trocken. Viel dünner. Und bei jedem Atemzug steht nur wenig Sauerstoff zur Verfügung. Reizungen der Atemwege sind durch den feinen Sand in der Luft unumgänglich – das tägliche Geschäft der Heiler in den zersplitterten und sogar verfeindeten Siedlungen.

Ein Mann sackt auf die Knie. Der abgenutzte Leder-Schutzanzug knirscht unter der Bewegung, seine Ausrüstung am Rucksack klappert leise. Für einen Moment senkt er den Blick, schämt sich fast, doch dann zwingt er sich, wieder auf den Fund vor ihm zu starren: das endlose Nass in einem alten Swimmingpool, versiegelt mit einer dicken „SealTex“-Plane – hermetisch und luftdicht. Randvoll. Mehrere Liter Leben funkeln unter der dreckigen Plane. „Der Spinner hatte recht“, flüstert er leise. Ein bitteres Lächeln zieht über sein Gesicht, als er sich an das barbarische Verhör vor wenigen Tagen erinnert. Dieser verwahrloste Bastard aus einer anderen Siedlung, welcher mit Preisgabe dieser Information sein Leben retten wollte, kostete uns am Ende nur eine Patrone. Und nun, hier – das Wasser im geheimen Reservoir. Er hatte nicht gelogen, dieses arme Schwein. „Ich komme als Held zurück, verdammt!“, flüstert er euphorisch – „zurück in die Arme meiner Familie!“

Er erinnert sich nicht mehr, wann er zuletzt so viel Wasser gesehen hat. Vorsichtig blickt er sich um, während er seine Handschuhe abstreift. Die sengende Hitze trifft ihn sofort, und er duckt sich, um möglichst viel Haut vor der brennenden Sonne zu verbergen. Mit einer Hand zieht er eine rostige Metalldose aus der zusätzlichen Tasche seines Rucksacks und zieht sie rasch in den selbst geworfenen Schatten. Der Schnellverschluss hakt ein wenig, gibt aber schließlich unter mehr Druck nach. Es ist ein altes Spritzenset – die verschiedenen Kanülen aus Metall, in unterschiedlichen Größen, sind im Deckel ordentlich sortiert. Er wählt die längste, die stabilste. Ein kurzer Blick, und er stellt fest: Niemand da. Ein leises Klicken ertönt, als die Spritze einsatzbereit ist. Mit einem festen Ruck drückt er die Nadel durch die dicke „SealTex“-Plane und zieht dann kräftig am anderen Ende der Spritze. Fünfzig Milliliter für einen Qualitätstest wären üblich, doch er zieht hundertfünfzig auf. Ein leises Quietschen begleitet das Herausziehen der nassen Nadel aus der Plane. Seine zerbrochenen Fingernägel reißen die vorbereiteten Klebebandstücke auseinander – das winzige Loch wird sofort abgedichtet. Durchatmen. Niemand da. Sein Blick fällt auf die Spritze: ihr Inhalt funkelt – welch ein kostbarer Schatz!

Seine trockene Zunge streicht hinter der Atemschutzmaske über die stark spröden, vollends ausgetrockneten Lippen. Nur ein Tropfen! Hier. Jetzt. Sofort. „Erst testen, du Idiot!“, ermahnt er sich selbst und drückt 50 ml Wasser in eine kleine, gummierte Öffnung seiner Metalldose. „Wehe deine Batterie macht jetzt schlapp!“, raunzt er die Dose an und drückt den Schalter zur Aktivierung. Drei Tropfen Wasser auf den Zeigefinger. Er schmiert über das verdreckte Display. Doch da leuchtet die Zeile für die Analyse auf. Das Gerät startet. Er lächelt aufgeregt. Vorfreude. 

Mehrere Anzeigen der veralteten Militärausrüstung blinken jetzt. Die Analyse läuft. Die Einweisung auf das Gerät war simpel und viel zu kurz. Aber als Draußengänger musste man sich nur einen Satz der Ausbilder merken: „Rote LED bedeutet Tod, gelbe ist verunreinigt, blaue ist unbekannt und grün ist der Jackpot!“. Leise murmelnd wiederholt er diesen Satz. Wieder. Und wieder. Und wieder.

Die ersten LEDs hören auf analytisch zu blinken. Das Gerät signalisiert so geräuschlos den Fortschritt. Weitere Analysemarker schließen sich an und erlöschen. Immer mehr LEDs verdunkeln sich und treten den Rückzug an. Noch drei. Nur noch zwei. Die letzte. Das Display wird schwarz. Die wenigen Sekunden fühlen sich wie Minuten an. „Mach schon!“, faucht er das Gerät an. Die Aufregung in ihm ist greifbar. Das Gerät verstummt, deaktiviert sich. Test abgeschlossen. „Sag schon!“, drängelt er. Dann, als hätte es ihn verstanden: grün.

Er erschrickt, als ein metallenes, quietschendes Geräusch unweit von ihm ertönt, und fährt herum. Eine Gestalt in einer Mischung aus Mantel, alter Uniform und ziviler Kleidung lehnt an einem rostigen Rest eines Zauns, direkt an der Seite des Beckens. Das Gesicht ist vermummt. Man kann eine Atemhilfe erahnen, doch die dunkle Schutzbrille lässt keine weiteren Merkmale erkennen. Auf dem Arm trägt die Gestalt eine Armbinde mit einem selbstgemalten Symbol – ein Tier, oder sowas. Ist das … Blut?

Ein halblautes, elektronisches Warnsignal ertönt. Erst bei ihm, dann bei dem ungebetenen Gast. Beide greifen instinktiv in die Beintasche, um es vom EchoTracer abzulesen. „Toxinwelle – verdammt, nicht jetzt!“, kommt es zähneknirschend aus ihm raus.

Toxinwellen. Sie traten erstmals 2043 auf. Es sind kleine Sandstürme mittlerer Geschwindigkeit, die zwar nicht lange andauern, aber den Tod eskortieren. Wer in so einen Sturm gerät, kann nicht atmen. Oder vielmehr, sollte nicht atmen: Mikroskopisch kleine, aber extrem resistente Lebensformen reisen in diesen Toxinwellen und nisten sich in den Körpern derjenigen ein, die zu nahe kommen oder zu atmen versuchen. Diese Parasiten sind zunächst unsichtbar, wirken unbemerkt und verursachen mit der Zeit brennende, unerträgliche Schmerzen. Sie lösen das Zellgewebe auf, setzen sich tief in den Organen fest und zersetzen das Gewebe von innen heraus. Innerhalb von Stunden wird der Körper selbst zu einer Brutstätte für die Parasiten, der Tod tritt nach wenigen Tagen ein, wenn die Organe durch die zersetzende Wirkung kollabieren. Mit anderen Worten: ein Todesurteil.

Er schaut zu der Gestalt: „Hör zu! Knall mich ab, schlitz mich auf, zerfetz mich – das ist besser als das, was in wenigen Momenten hier ist. Oder, und ich muss echt bescheuert sein, du hilfst mir jetzt sofort mit der Nexar-Phalanx. Jetzt. Nicht gleich. Jetzt!“ 

Die Gestalt nickt und stopft das eigene Tragegerät hastig in die Beintasche. Die Hände heben sich, ein klares Zeichen: keine Waffen, keine Bedrohung. Langsam sinken die Arme wieder. „Jetzt komm her, verdammt!“, brüllt er. „Ich habe keine Zeit für diese Scheiße.“

Die Gestalt kommt unerwartet schnell und geschmeidig auf ihn zu. Der flimmernde Vorhang der Hitze entzerrt sich. Umrisse werden klarer: Die Silhouette schärft sich, wird kleiner, schmaler – fast zierlich. Ihr gezielter Griff an den oberen Tragegriff seines Rucksacks hindert ihn daran, in den Dreck zu kippen. Er dreht sich um, und zum ersten Mal steht er der Gestalt gegenüber – nur die Breite eines Rucksacks trennt sie. Ein flüchtiger Moment des Zögerns. „Ich danke dir“, flüstert die Gestalt. Ihre Stimme klingt zerbrechlich. Es ist mehr als eine Floskel – es ist eine leise, unbeholfene Anerkennung, die in der heißen Luft hängen bleibt.

Rucksack auf. Hastig zieht er Stangen aus dem Rucksack – dünne, aber stabile Stangen aus einer schwarzen Legierung. Jede Stange hat einen Kontaktpunkt am unteren Ende, über den für einen kurzen Moment die eigene Energieversorgung aktiviert wird. Die Stange richtet sich dann mit einem eigenen kleinen Kraftfeld auf, während die Spitzen sich mit einem leisen Zischen in den staubigen Boden bohren. Bei Erreichen der benötigten Tiefe pulsiert das kreisrunde Energiezirkulationsfeld am oberen Ende in hellem Weiß.

Mit einem kräftigen Ruck stößt er die erste Stange in den Boden. Sie funktioniert. Oberhalb des Bohrlochs tritt flüssiges Glas heraus. Das weiße Licht pulsiert.

„Wo ist die Energiequelle?“, fordert die Gestalt.

„Unteres Fach, innen – das mit den schwarzen Clips.“

Die zweite Stange bohrt sich problemlos in den Boden. Kurz darauf pulsiert das weiße Licht.

„Ich seh’s nicht!!!“, brüllt die Gestalt.

„Kipp den scheiß Rucksack aus – nun mach schon!“, während die dritte Stange sich versenkt.

Wind kommt auf. Erst böig. In Wellen. Wuchtiger werdend. Dann kontinuierlich. Sand wird aufgewirbelt. Verschoben. Neu angeordnet. „Warnung, Warnung – Schutz suchen!“, ertönt es aus den EchoTracern. Die Sicht wird immer schlechter. Die Umgebung färbt sich in ein tiefes Orange.

Die vierte Stange berührt den Boden. Ein Fehlerton ertönt. Erneut stößt er die Stange in den Boden. Fehlerton. Stange. Fehlerton. Stange. Fehlerton. „Wir sind am Arsch!“, flucht er und lässt die Stange in den Sand fallen.

„JA, ich hab‘ die Energiequelle!“, ruft die Gestalt freudig, reckt diese mit einer Hand in die Höhe und läuft auf ihn zu. Er packt sie mit beiden Händen fest an den Schultern: „Wie lange kannst Du die Luft anhalten?“ Entsetzen.

„Vielen Dank, dass sie WarTech vertraut haben – leben sie wohl“, spricht es synchron aus den EchoTracern, gefolgt von einer kleinen Melodie. Reflexartig reißt er die Gestalt zu Boden, wirft sich über sie und bedeckt sie mit seinem eigenen Körper. „Tief einatmen – nur langsam und kontrolliert ausatmen! JETZT!“, brüllt er sie an. Beide atmen synchron ein. Tief. Vielleicht zum letzten Mal. Die Gestalt umklammert ihren menschlichen Schutz.

Beide fühlen den gerbenden Sand, welcher mit ohrenbetäubendem Lärm über sie hinwegfegt. Binnen weniger Sekunden bilden sich Sandwälle um ihre vereinte Körperform. Der Sturm zerrt an ihnen, reißt Gegenstände der umliegenden Ausrüstung fort. Kleinere Trümmerteile kollidieren mit seinem Körper, bleiben wie Rasierklingen stecken, verursachen Blutungen. Die Uhr scheint sich von diesem Anblick abgewandt zu haben – die Zeit ist stehengeblieben.

Der Brustkorb unter ihm zuckt erstmalig. Dann erneut. Und schon wieder. Offenbar Krämpfe und erste Atemnoterscheinungen. ‚Wir gehen hier nicht drauf‘, denkt er und legt seine Hand beruhigend auf den Brustkorb. ‚Halte noch einen kurzen Moment durch!‘ Hinter der Maske verzieht sich das Gesicht.

Der Sturm lässt nach. Nicht in Etappen, sondern wie auf Knopfdruck. Der Tod ist über sie hinweg gerollt – hat sie verfehlt. Die Farbe der Sonne verwandelt sich in die gewohnte Brutalität. Die übliche Grausamkeit nimmt wieder ihren Platz ein.

Eine piepsige Melodie durchbricht den Moment: „Vielen Dank für den Erwerb ihres WarTech Produktes. Bleiben sie gesund!“ Tüdelüüü. Er richtet sich auf und presst die restliche Luft raus. Ein tiefer Atemzug versorgt seine Lunge. Jeder Atemzug entschleunigt seinen eigenen Herzschlag. Langsam weicht er von der Gestalt zurück und krabbelt auf allen Vieren zur Seite. Er ächzt. Die Wunden schmerzen und offenbar stecken einige Geschosse tief im Fleisch. Er stupst das Bein der regungslosen Gestalt an. Keine Reaktion. „Hey“, abermals stößt er gegen das Bein, „es ist vorbei, steh auf! Ich brauche da mal eine helfende Hand.“ Abermals keine Reaktion. Er schaut auf die regungslosen Auslassventile der Maske. Dann auf den Brustkorb, welcher sich weder hebt noch senkt.

„Kumpel, du willst doch wohl jetzt nicht schlapp machen!“ Er krabbelt in Richtung Oberkörper, schiebt kleinere Trümmer mit dem Unterarm beiseite. „Komm schon, heute wird nicht gestorben – noch nicht! Und nicht heute.“ Da, aus seinem Rucksack – eine dieser verwitterten, aufgerollten Kunststoffplanen. Er packt die Rolle und wirft die lose Seite von sich, damit diese sich abwickelt. Eine Stange der Phalanx steckt unweit im Boden, sehr gut – der obere Teil bohrt durch die Plane. Das hält. „Sorry, Kumpel“, denn mit einem langen Arm lehnt er sich auf den leblosen Körper, um die andere Phalanx-Stange zu erreichen. Mit Wucht durchstechen. Auch das hält. Die Plane spendet nun genügend Schatten. Mit einer Hand reißt er sich die Schutz- und Atemmaske vom Gesicht. Er atmet schwer. Anstrengung und Verletzungen wetteifern Hand in Hand. Nur mal kurz abgestützt. Blut strömt aus einem Ärmel und nährt den Sand unter ihm. Für einen Moment senkt er den Kopf. ‚Nein, Andy, auch du kratzt heute nicht ab. Reiß dich zusammen!‘, hämmert es in seinem Kopf. Unter angestrengtem Stöhnen zieht er sich am fremden Schutzanzug aufwärts. „Komm her, Freund … befreien wir dich erstmal hiervon!“ Mit fast letzter Kraft greift er nach dem Gesichtsschutz. Die sichtbaren Gummilaschen dehnen sich. Die Dekompression setzt ein und Luft saugt sich dezent zischend durch den nun schmalen Abstand zwischen Haut und Maske. Er streift die Maske nach oben ab. „Ein Engel!“

Ihr Gesicht ist makellos. Perfekt. Keine Narben. Keine Verbrennungen. Keine Furchen von dieser leibhaftig gewordenen, endbiblischen Hölle auf unserem Planeten. Als wäre ihr Gesicht höchstselbst das Licht dieser Welt und außerhalb der wenigen, verbliebenen Schatten schier unverwundbar. Ihre Lippen glänzen feucht. Blonde Haare werden leichtgewichtig und unbeschwert vom verbliebenen Wind über ihr Gesicht gestreichelt. Wie kann das sein? Wie kann sie … so sein?

Ohne weiteres Zögern greift er nach unten. Die Bewegung ist zielgerichtet. In der Hektik der Situation gibt es keine Zeit für Rationalisierung. Er hat die unzähligen Trainings, die ihm immer wie militärischer Drill vorkamen, rund um medizinische Selbst- und Fremdversorgung stets gehasst. Aber jetzt, in diesem Notfall einer Fremden, erwartet er instinktiv die gleichen Vorgaben durch ihre Ausbilder zur Aufbewahrung der medizinischen Selbstversorgung und wo diese am Körper zu finden sind: Die linke Beintasche, eng und praktisch, die neben einem kleinen Messer auch Verbandsmaterial in zwei Größen vorhält, sollte ebenso eine Dosis Atropin und einen geladenen Autoinjektor mit Adrenalin beheimaten. Platz für genau das, was jetzt zählt – wenn Sekunden wertvoll verstreichen. Er tastet mit schnellen, gezielten Bewegungen die Tasche ab. „Sei da!“, murmelt er und erfühlt in dem Moment den vertrauten Widerstand. Direkt wird der Klettverschluss der Beintasche hochgerissen und seine Finger gleiten in die Tasche, spüren das versteckte Gewicht und ziehen ihre letzte Hoffnung in den Schatten der Plane: die rettende Dosis.

Der demolierte Metallkörper glänzt in seiner blutigen Hand. Die Aufschrift ist nicht mehr lesbar. Seine Fingerabdrücke, gemengt aus seiner DNA, zeichnen sich rot auf dem Autoinjektor ab. Es ist ein altes Gerät, aber es wird seinen Dienst erfüllen. Gequält dreht er sich ein Stück auf ihr, um mit dem anderen Arm besseren Zugriff zu haben. Diese Hand greift die Beintasche und reißt diese zu sich, um die Kleidung zu spannen. Sofort rammt er den Autoinjektor mittig in den Oberschenkel, oberhalb des Knies: schnellere Aufnahme, gut durchblutet und schnelle Absorption, weniger Risiko für Verletzungen von Nerven oder Blutgefäßen. ‚Nervus femoralis‘ ploppt in seinem Kopf auf – wie in dem räudigen Trainingshandbuch erwähnt.

Es knackt leise. Mehr nicht. Hat es geklappt? Er dreht den Autoinjektor und schaut auf die Austrittsstelle des Adrenalins. Kein Blut. Keine Flüssigkeit. Nochmals strafft er das Hosenbein, nochmals und mit mehr Wucht rammt er erneut den stiftgroßen Metallinjektor auf den Oberschenkel. Es knackt leise. Doch mehr nicht. „Das ist unser Tag, mein Engel, unser Tag!“, flüstert er und dreht sich auf seinen Rücken. Gefräßig bohren sich die kleinen Metallteile tiefer in sein Fleisch. Er quittiert es schmerzhaft stöhnend. ‚Wird schon gehen – du hast Schlimmeres erlebt und ausgehalten!‘ Kurz Durchatmen, dann hebt er den Autoinjektor beidhändig vor sein Gesicht und schraubt die Drehverschlusskammer gegen den Uhrzeigersinn auf. Ein Blick hinein. Seine Arme sacken auf seinen gezeichneten Körper. Irgendwas ist da drin, aber keine Dosis. Er schüttelt den Inhalt auf seine Brust. Ein gefaltetes Stück Papier fällt heraus – mehr ist nicht drin. Er schaut sie an. „Dafür wirfst du dein Leben nun weg – was ist das?“, fragt er sie, während seine Hände das Stück Papier öffnen. Es ist ein altes, verblasstes, fast schon farbloses Foto. Drei Menschen sind darauf zu sehen – offenbar ihre Eltern. Und sie selbst. Ein Erinnerungsstück. Deutlich vor „Red End“ … aus verlorenen Tagen verbrannter Seelen. „Hier“, und drückt ihr das Foto in die von Schutzhandschuhen umhüllte Hand, bevor er ihre Finger zu einer umschließenden Faust formt. Als er auf den Rücken zurückrollt, ächzt das Leder unter der Last. Erneut fressen sich Metallreste in ihr Opfer. „Ich bleibe hier einen kleinen Moment bei dir – nicht, weil ich muss, aber weil ich so entschieden habe. Ich muss nur kurz durchschnaufen. Nur einen kurzen Moment.“ Er schließt die Augen.

Sand verschiebt sich. Rieselt. Stört. Zwängt sich auf. Hitze ist der allgegenwärtige Verbündete. Sekunden. Bruchteile davon. Sein Kopf dröhnt. Dumpf. Drückend. Pochend. Der Blutverlust ist der Hauptgrund. Die Sauerstoffversorgung ist verringert. Ein leichtes Rauschen liegt auf seinen Ohren – der Kreislauf ist am Limit. Jeder Herzschlag ruft den Tod ein Stück näher herbei. ‚Ich bin niemand besonderer – Gevatter Tod, du brauchst dich nicht beeilen!‘ Und während er zu lachen beginnt, greift seine rechte Hand in die eigene Beintasche und holt den eigenen Autoinjektor heraus. Unverbraucht. Wie neu. Geladen. Mit seiner Dosis. Seiner Rettung. Seinem Leben.

Er beißt auf die Plastikkappe, welche den Auslöser schützt, und befreit seinen Autoinjektor davon. Angestrengt rollt er auf eine Körperseite. Der sichtbar gewordene Sand ist blutverschmiert und klumpig. Kein Rinnsal. Ein matschiger, tiefroter Brei, der in wenigen Minuten unter diesen Bedingungen auch nur wieder vertrocknet, um weiterer Sand auf diesem verödeten Planeten zu werden. Kraftlos. Doch das muss jetzt klappen: Er holt aus und jagt seinen Autoinjektor in ihren Oberschenkel. Nicht ganz nach Handbuch, aber es knackt, Glas zerbirst hörbar im Gehäuse und eine austretende Metallspitze entlädt ihre Fracht in die Muskulatur. Zwei Sekunden halten. Rausziehen. Blut tropft von der Spitze. Er lächelt schwach und lässt die Spritze kraftlos zwischen beide fallen.

Es brennt wie Feuer in den Venen. Ein Lauffeuer ist entfacht. Die Organe bäumen sich auf. Werden angestoßen. Blut wird schneller als üblich durch den Körper katapultiert. Die Lungen brennen, können nicht frei atmen. Furcht ergreift sie. Was ist passiert? Aber der Schmerz in ihrer Brust, das Stechen in den Muskeln und die flimmernde Dunkelheit vor ihren Augen sind es, die sie zwingen, sich zu krümmen. Ihr Körper schüttelt sich. Spielt ihr Verstand einen Streich? Der Körper zuckt, gehorcht aber nicht. Ihr Verstand zwingt sie in die grausame Realität zurück. Überlebenskampf.

Ihre Augen fliegen auf, und in dem kurzen Moment der Verwirrung über die plötzliche Rückkehr ins Leben kann sie nur den leeren Raum um sich herum begreifen. Es ist gleißend hell. Sie fährt hoch, setzt sich aufrecht hin. Ein massiver, trockener Husten bricht unvermittelt aus ihr heraus. Ihre Brust schüttelt sich, als der wenige, eingeatmete Sand in ihren Atemwegen sich mit einem scharfen Kratzen bemerkbar macht. Jede Bewegung in ihrer Lunge fühlt sich an wie Schmirgelpapier, das über das Innere ihres Körpers reibt. Ihre Augen flackern. Das Adrenalin erreicht seinen wirkenden Höhepunkt. Husten. Jedes Mal wirft er kleine Bröckchen aus, die ihren Hals blockieren, als sie auf die Seite kippt und mit ihrer Faust auf den Boden schlägt. Sie fühlt das Brennen in ihrer Kehle, das Zerren und Reißen in den Bronchien. Speichel spült gesammelten Sand über die zarte Unterlippe aus ihrem Mund. Raus damit. Und da ist es: das unkontrollierte, aber befreiende Einatmen. Tief. Unmittelbar gefolgt von ruhigem, kontrollierten Ausatmen. Eine Wohltat. Erfüllend. „Verdammter Sand“, murmelt sie und spürt, wie sich der Boden unter ihr dreht. Der Geschmack des verstorbenen Sandes, trocken und bitter, kehrt zurück, als sie mit zitternden Händen versucht, sich zu stützen. Ihre Gedanken bündeln sich. Das Bild vor ihren Augen wird klarer. Neben ihrer Hand liegt das verblasste Familienfoto ihrer Kindheit.

„Warum … warum liegt das hier, hä? Was soll das … Scheißkerl …!“, sind ihre ersten kraftlosen Worte. Keine Antwort. „Was wühlst du in meinem Leben? Sag es …! Das geht dich … nichts an.“ Die Kraft kehrt in ihre Stimme zurück. Der Schwindel weicht und sie schafft es auf alle Viere. Ihr Blick fällt auf die Feldflasche, die aus seinem Rucksack fiel. Sie packt diese, setzt sich aufrecht hin und dreht den rostigen Verschluss auf. Vorsichtig riecht sie daran. Ihre Nase ist nicht angewidert. Sie schaut ihn kurz an. Sie nippt an der Flasche. Kostet das Innere – das Lebenselixier. Ihre Zunge fängt Tropfen auf den eigenen Lippen ein. Dann setzt sie an – und trinkt. Gierig. Wasser fließt links und rechts an ihrem Mund vorbei, den Hals entlang, in ihre Schutzkleidung. Sie setzt nach tiefen Zügen ab. Atmet. Lässt es wirken. „Ha!“, keucht sie – und trinkt weiter. Bis sie die Feldflasche über ihrer Mundöffnung anhebt, um das liquide Rinnsal, das erfrischende Nass, lasziv einzufangen. Ein Schauspiel. Die geleerte Flasche landet im Dreck. Der Sand kriecht hinein. „Das … habe ich gebraucht.“

Sie schaut sich um, während ihr Handgelenk über ihren Mund wischt. Ihr Blick folgt der beschädigten Plane von einer Phalanx an die andere. Die sporadische Montage für Sicherheit, Geborgenheit und Schutz hält gegen die anbrandenden Windböen. Platz für zwei. Ihr fällt all das Utensil auf, welches im Sand verstreut liegt – Brauchbares, Kaputtes, Unbrauchbares, Wertloses, Blut. Und da liegt er. Weit außerhalb des kleinen Unterschlupfs. Sie rollt mit den Augen, rafft sich dann aber auf, den Kragen seiner Kleidung zu packen und kraftvoll in den Schatten zu ziehen. Er stöhnt.

„Na, unbekannter Idiot?! Ich nenne dich jetzt ‚Idiot‘, denn deinen Namen kenne ich nicht. Da hast du mir ja jetzt ordentlich was eingebrockt. Kommst hierher, lässt deinen ‚survival charme‘ spielen, rettest mich – sogar 2x. Und was soll ich jetzt machen? Du bist in äußerst schlechter Verfassung. Siehst nicht so aus als wäre morgen zwingend dein Tag. Läuft semi-gut, richtig?“ Ihre Finger durchkämmen den Sand. „Hast ganz schön was abbekommen – aber das war deine eigene Wahl, nicht wahr? Hättest mich einfach ignorieren sollen. Darum jetzt auch dein Name: Idiot.“ Ihre Finger stoßen auf einen Widerstand – die Energiequelle. „Siehst du? Darum bin ich hier. Denn immer wieder kommt einer von euch ‚Draußengängern‘ – wie ihr euch nennt – hier vorbei und glaubt, er hätte einen großartigen Fund gemacht.“ Sie deutet auf das Becken. „Was für ein betörender Köder, nicht wahr?“ Er stöhnt. „Ja, mein idiotischer Freund, du sagst es.“ Ihre Hände richten ihre Ausrüstung, prüfen Anschlüsse und Kontakte. „Immerhin hast du nichts von meiner Ausrüstung beschädigt – so gesehen hat die Sache jetzt also was Gutes: du hast es an die Ziellinie geschafft, ich habe deine Energiequelle.“ Sie schließt ihren Schutzanzug, setzt Gesichts- und Atemschutz wieder auf. „Ich mache jetzt weiter. Wie immer. Es wird nicht lange dauern, bis ich den nächsten Idioten dir in das Reich der Schatten nachschicke.“

Sie steht auf und tritt ein paar Schritte neben den Unterschlupf, streckt sich und blickt an den Himmel. „Die Sonne. Ist sie nicht schön? Eine unvergängliche Göttin der Zeit.“ Sie schaut ihren Todeskandidaten an. „Der Höchststand wird bald erreicht. Die Temperaturen erreichen heute bestimmt einen neuen Höchstwert in dieser Region. 21 Gerons mehr dürften es noch werden, wenn ich die Reflektionen am Horizont korrekt einschätze. Dein Weg endet hier, unbekümmerter Idiot. Danke für den intensiven Moment. Aber womöglich erinnerst du dich an die Geschichte des Ikarus, welcher …“

Ein Schuss fällt. Der Monolog bleibt unvollendet. Stille.

 

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