Vogelkunde
Bild von Michael Pollak unter Lizenz CC BY 2.0 (https://www.flickr.com/photos/michaelpollak/4505578419/in/photostream/).
Der Morgen brach an. Ich flog bereits hoch über den Straßen. Meine Flügel trugen mich durch die frische Brise. Die Welt unter mir erwachte zusehends. Menschen strömten aus ihren Häusern und erweckten ihre täglichen Routinen zum Leben. Mein Privileg: Ich kann von oben beobachten, ohne mich der Hektik der „Stadtmenschen“ auszusetzen. Doch dieser Morgen verlief auch für mich anders.
Als ich über einer belebten Kreuzung vergnügt flatterte, hörte ich einen ohrenbetäubenden Lärm, der mich erschreckte. Ich stutzte in der Luft und richtete meinen Blick auf das Geschehen unweit unter mir. Schnell flog ich zu einem nahegelegenen Baum – ein Ast bot mir halt. Mein winziges Herz pochte noch vor Schreck in meiner gefiederten Brust, doch warf ich neugierig einen Blick hinunter: Eine Autofahrerin hatte ein Kleinkind angefahren. Regungslos lag dieser kleine Mensch auf dem Zebrastreifen. Ausströmendes Blut aus einer klaffenden Kopfwunde wurde vom charakterlosen Asphalt gierig aufgesogen.
Die Autofahrerin stieg aus ihrem viel zu großen Wagen, verharrte aber schutzsuchend hinter ihrer Fahrertür. „War ich das?“ fragte sie. Ihr Gesicht war von Verzweiflung und Schuld gezeichnet. Tränen liefen ihr über das frisch geschminkte Gesicht. Ihre zittrigen Hände wählten den Notruf. Das Kind lag regungslos auf der Straße. Seine kleine Gestalt wurde von einem Zittern immer wieder angestoßen. Die Zeit schien stillzustehen.
Menschen. Sie sind so sonderbar eigenartig. Von Widersprüchen durchzogen. Empathie und Mitgefühl, Liebe und Trost – dem gegenüber Kriege und Konflikte, Hass und Vorurteile. Als Mensch muss man in einer Notsituation Glück haben, wen man gerade um sich hat. Wer würde wirklich helfen? Wer ignoriert? Sie können wunderbare Dinge tun – aber ebenso herzlose Kälte offenkundig leben. Und während viele Menschen lieber urteilen als Geschehenes verstehen zu können, hörte man halblaut und im Verborgenen „Augen auf“, „den Fehler machst du kein zweites Mal“, „scheiß Blagen wieder“. Niemand half. Die Menschen drehten sich um und gingen weiter ihrer Wege.
Ich tschiepte lauthals: „Jetzt helft doch endlich!“ Endlich blieben Menschen stehen. Aber sie glotzten nur. Machten Fotos oder Videos und sprachen dabei mit dem Unfall als Hintergrund in die Kamera. „Ihr sollt helfen!“ tschiepte ich immer lauter und lauter. Doch irgendwann kam ich nicht mehr gegenan: Der Verkehr um die Kreuzung staute sich. Entfernte Autos hupten ungeduldig, Menschen gestikulierten wütend aus ihren geöffneten Fenstern, und der Unmut breitete sich gewohnt schnell aus. Es war ansteckend. Es wurden immer mehr. Als würde Hupen nun Hier und Jetzt helfen. Aber Menschen sind offenbar so. In ihren Fahrzeugen. In ihrer asphaltierten Arena der Frustration. Wie eine Welle aus der Ferne schwappte das immer lauter werdende Hupen über die Kreuzung. Ich blieb ungehört.
Eine alte Frau eilte plötzlich im Morgenmantel aus ihrer Haustür. Sie trug Verbandskasten und Wolldecke unter dem Arm. Mit einem Lächeln kniete sie sich neben das Kind, berührte die Hände und schaute dem kleinen Kind ins Gesicht. „Hallo. Bewege dich nicht … ja, das tut bestimmt weh … ich versuche dir zu helfen!“ Vorsichtig legte sie ihre Wolldecke über das Kind und achtete darauf, dass der kleine Mensch nicht aufstand. Mit einem frisch geöffneten Verband drückte die alte Frau direkt auf die schlimme Kopfwunde. Das Kind begann zu weinen. „Tut mir leid, mein Schatz. Wir müssen das jetzt überstehen. Bleib ruhig liegen – Hilfe ist unterwegs.“ Abermals lächelte die Frau das schwer verletzte Kind mit ihrer unerwarteten Herzenswärme an: „Es wird alles wieder gut.“
Auf dem Gehweg schob sich der Rettungswagen mit Blaulicht und lauter Sirene an allen Schaulustigen und Wartenden vorbei. Die Polizei folgte dichtauf. Die Welle der Empörten ebbte unmittelbar ab. Es wurde ruhiger. Am Unfallort angekommen, eilten die Sanitäter mit Trage zum Zebrastreifen. Schnell war klar, dass Kind musste sofort ins Krankenhaus – es ist dringend. Über Funk wurde die Notaufnahme verständigt. Die alte Frau hielt noch immer mit beiden Händen eine Hand des Kindes fest als die Trage in den Rettungswagen geschoben wurde. „Du bist bald wieder gesund. Dann besuchst Du mich – und ich stelle dir meine Katze Filou vor.“
„KATZE“, schrie ich auf! Und vor Schreck fiel ein Ei, welches ich während des Chaos menschlicher Emotionen vor Aufregung offenbar gelegt hatte, hinab. Mein Blick hechtete hinterher. Und in den wenigen Sekundenbruchteilen wärmte sich mein Herz – wer wärst du? Wie wärst du? Hätte ich auf dich aufpassen können? Es zerschellte auf dem gleichen Asphalt eben jener Kreuzung, und ich konnte nur zuschauen, wie der Inhalt, das zukünftige Leben, zerstört wurde. Das kleine Leben, das gerade erst begonnen hatte, wurde auch von den Geschehnissen auf dieser Straßenkreuzung ausgelöscht.
Beim Anblick der zerbrochenen Überreste meines Eies wurde mir klar, wie fragil das Leben ist. Bewusst oder unbewusst. Langfristig oder unmittelbar. Absehbar oder unerwartet. Die Menschen unter mir mochten sich über den Stau ärgern und ihre Geduld viel zu schnell verlieren, aber sie haben verdrängt, wie kostbar ihre Lebenszeit wirklich ist. Wie zerbrechlich jedes Leben ist – und wie gleichzeitig darum wertvoll.
„Blöde Katze!“ dachte ich und schwang mich routiniert von diesem Ast wieder empor … hoch über die Stadt … wie jeden Tag.
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