Schattenwelt
Megapolis. Eine Stadt, die Schlaf verlernt hat. Sie ist ihrer Menschen überdrüssig. Überfüllt. Vermüllt. Verroht. Verkommen. Gebäude verrotten in Zehnteln einer Zeitlupe, als wären sie selbst Gefangene ihrer Leere. Obdachlosigkeit prägt das Stadtbild, das unzählige gestrandete Existenzen, umgeben von kaputten Möbeln, Zeltplanen und alten Decken, in einem unaufhörlichen, verzweifelten Überlebenskampf aus Drogen, Alkohol, Übergriffen, Diebstahl, Gewalt und Mord gerade so überleben lässt. Eine nie endende Abwärtsspirale widerlichen Seins.
Die Straßen, einstige Hauptschlagadern und Pulsgeber, sind ein umkämpftes Chaos. Der Geruch von Abgasen, allerlei Müll und verschimmelten Überresten jeglicher Art verseucht die Luft und hält die Stadt fest umklammert. Risse im Asphalt zeichnen ihre umfangreichen Grimassen. Schlaglöcher brüllen einen Preis, wenn man diese zu schnell durchfährt.
Werbung in Neonfarben preisen Sex an. Die schnelle Befriedigung. An jeder Ecke. Je mehr man sich dem Zentrum nähert, umso obszöner und gewagter werden die Claims – und ihre profanen, ausgebeuteten Fantasien. Immer bunter flimmernde Hologramme überlagern die brutal abgenutzte Realität, versprechen verführerische Träume bei Nacht. Diese Stadt ist der Wallfahrtsort für jederlei Fetisch. Für einen Moment kann jeder seine Angst, seine Einsamkeit, seine Dunkelheit in einer von Neonlicht getäuschten Ekstase vergessen. Gott hat diesem Ort schon vor langer Zeit den Rücken gekehrt.
Sirenen in der Ferne durchbrechen die monotone Geräuschkulisse der Stadt. Hoffnung und Verzweiflung treffen in diesem Moment irgendwo aufeinander. Der Regen, der seit Stunden in schweren Tropfen vom Himmel fällt, hat sich zu Bächen geformt und strömt über den Asphalt. Er ist bemüht, die auf ihm reflektierte Realität mit all seinen Frohlockungen fort zu spülen. Als wäre es so einfach.
Der Regen prasselt auf das Autodach des in einer Seitenstraße parkenden Polizeiwagens. Der Motor läuft und röchelt in die Nacht. Der Scheibenwischer quietscht ruhig über die Frontscheibe. Er beendet jäh das Rennen der eintreffenden Regentropfen und verschafft dem Fahrer wieder freie Sicht nach vorn. Es ist ruhig. Sein Blick wandert auf die kleine Uhr in der Mittelkonsole. Es ist 02:38 Uhr. Fast schon zu ruhig.
Das Funkgerät im Fahrzeug nuschelt im Hintergrund. Anweisungen und Einsatzorte für die Kollegen quer durch die Nacht. In Valleydail hat sich wohl ein hässliches Familiendrama ereignet. Da muss wohl ein Wischmopp geholt werden. Klingt nach weiteren Überstunden. Ja, Überstunden, verdammt. Passt auf euch auf. „Einheit Vier-13, wir haben einen Wagen in der Nähe, der übernimmt. Zeit für einen Kaffee – ab ins Diner! Over.“ krächzt es nun lauter aus dem Funkgerät. Der Fahrer greift nach dem Bedienteil für das Funkgerät und drückt die Sprechtaste: „Einheit Vier-13 hat verstanden, sobald ich Lichter im Rückspiegel sehe …“. Im Rückspiegel tauchen zwei helle Lichter auf und blenden kurz mehrmals auf. „Ah, Korrektur, die Einheit ist schon da. Rückkehr in fünfzehn Minuten. Kaffee. Jetzt. Over and Out.“ Dann wollen wir mal.
Regen zerschellt während der Fahrt durch die Nacht auf der Windschutzscheibe. Officer Michael Doll ist in Gedanken versunken, während er im Seitenspiegel in die düstere Leere der befahrenen Brücke blickt. Träger um Träger huscht vorbei. Die Beleuchtung ist spärlich.
„Kann ich dir eine Frage stellen?“
„Natürlich.“
„Als letzten Monat auf mich geschossen wurde, habe ich gedacht, dass es das für mich war. Ich war mir so sicher, dass der Typ auf mich gezielt hat. Aber du hast mich mit einem Arm umgestoßen und den Typ mit meiner Waffe erschossen. Dieser Drogenirre aus Sektor 13 mit seinem Retro-Outfit.“
„Ich weiß, wen du meinst.“
„Du wusstest, dass der schießt. Ich hatte nicht aufgepasst. Habe die Hände aus den Augen verloren und beinahe ...“
„Dafür sind Partner da.“
„Ja. Und nein. Die Überstunden machen mich fertig. Es ist leichtsinnig. Ich bin unkonzentriert. Zu langsam. Und ständig diese Tabletten.“
„Wir sind da. Ich bin damit einverstanden, dass du den Kaffee bezahlst. Lass uns drinnen weiterreden.“
Der Polizeiwagen parkt prominent vor dem hell erleuchteten Diner. Die orangenen Linien, welche das dunkle Gebäude mit seiner Glasfassade umgeben, zeichnen einen starken Kontrast in die Nacht. Der Schriftzug „Marcie’s“ thront über dem doppeltürigen Eingang. ‚24/7 geöffnet.‘ steht auf einem Schild in der Tür. Der Innenbereich hat Platz für gut 30 Gäste, die auf strapaziertem, rotem Leder bequem sitzen können. Die getrennten, aber gut gepolsterten Sitzecken sind gepflegt – und fast menschenleer. Für eine kurze Pause in etwas Stille also keine schlechte Wahl. Es ist 02:46 Uhr.
„Immer dieser Regen“, flucht Michael und drückt die Tür zum Diner auf. Ein Kopf im hinteren Teil des Raumes hebt sich und schaut zur Tür. Er nickt freundlich. Gefolgt von einer weit geöffneten Hand zum freundlichen Gruß. Kräftig stampft Michael mit beiden Füßen auf der Fußmatte, um sich von der Umklammerung anderer Regentropfen zu befreien.
„Hey, Marty, mal wieder Spätschicht in der Küche? Hast du Apfelkuchen zum Kaffee?“
„Hier waren gerade andere Jungs – die haben ordentlich zugeschlagen. Ist nichts mehr da.“
„War ja klar … so eine Schicht ist das.“
Es ist wieder diese Sitzecke. Mittig an der linken Wand. Alle Wege gefühlt gleich lang. Gute Übersicht. Eine Art Stammplatz hat sich hier über Jahre entwickelt. Michael fällt in die linke Seite und schnauft durch, während sein Kopf auf die auf dem Tisch liegenden Armen fällt. „Ich bin so erschöpft – unglaublich.“
„Hey, was darf’s denn sein?“, fragt die herbei geeilte Bedienung sehr freundlich. Sie pustet ihre blonde Strähne hoch, die gerade ins Gesicht fällt, und beginnt zu kichern: „Blöde Haare heute, haben ihren völlig eigenen Willen.“ Michael hebt langsam den Kopf. Die flachen Schuhe sind etwas älter. Die blaue Jeans endet kurz über den Knöcheln. Kein Gürtel. Die weiße Schürze ist schon etwas dreckig. Ein weißes Longsleeve mit Aufdruck einer Party vor zwei Jahren. Bunte Armbänder baumeln an den Handgelenken. Zwei oder drei Ringe an den Fingern. Silbern. Nagellack. Blau. Gepflegte Hände. Lange blonde Haare. Zusammengebunden und hochgesteckt. Blaue Augen. Maximal 54 kg. Zirka 1,65 cm groß. Auf dem Namensschild steht ‚Jessie‘.
Michael schaut seinen Partner an und fragt „Kaffee?“ Dieser winkt ab.
Jessie ergänzt: „Ja, der Kaffee ist frisch und gar nicht unlecker.“
„Dann nehme ich einen großen, heißen, gar nicht mal unleckeren Kaffee, bitte. Etwas Muh-Juice muss noch Platz haben.“
Jessie lacht. „Kommt sofort.“ Sie eilt davon.
Michael schaut ihr hinterher. ‚Was verschlägt so ein hübsches Ding in dieses Viertel?‘ Und während er unerwartet ihren Blickkontakt mit einem Lächeln quittiert, fällt ihm ein Gast neben dem Eingang ins Auge. Unscheinbar. In sich gekauert. Offenbar auf dem Tisch schlafend. Schlechter Kleidungsstil. Dunkle, verwitterte Kleidung. Schmutzige, abgelaufene Schuhe. Klebeband hält die Jacke zusammen. Dreckige, ungepflegte Hände. „Ja, die Gäste in dieser Nacht sind alle etwas … durchzecht.“, steht Marty unerwartet neben dem Tisch. „Tut mir leid mit dem Apfelkuchen – auch der Penner da am Hauptfenster ist jetzt nicht geschäftsfördernd. Nachher Frühstück zum halben Preis?“ Aufgeregt wischt er seine Hände in seiner Schürze ab.
„Erstmal durch die Nacht kommen, Marty, erstmal nur durch diese Nacht – danke dir aber.“
Marty nickt zufrieden und lächelt etwas verschmitzt. „Jessie bringt gleich Kaffee. Der ist heute …“
„Ja … gar nicht mal unlecker.“, unterbricht Michael.
Die Musik im Diner wird etwas lauter gedreht. Jessie schaut Michael an und lächelt, während sie schüchtern ihre Haare hinter ein Ohr drängt. Der Kaffee steht bereits auf einem Tablett. Frisch. Heiß. Aufregend. Lächelnd eilt sie herbei.
Sein Partner bemerkt es. „Siehst du? Das ist das Leben. Diese Momente. Genau das.“
„Sooo, ein Kaffee und noch Platz für Muh-Juice. Wenn es noch was sein darf, einfach bei mir melden.“ Sie strahlt. Ja, diese Momente. Das ist das Leben.
Michael hält seinen Becher mit beiden Händen fest. Es ist eine Umklammerung. Der heiße Becher brennt sich mit seiner weißen Keramik in seine Haut. Sein Gesicht ist versteinert. Für mehrere Momente passiert nichts. „Amen“ flüstert er und nimmt einen erwartungsvollen Schluck. Überraschung. Der Kaffee ist wirklich gar nicht mal …
Die Eingangstür wird ruckartig und mit Wucht geöffnet. Ein schwerer, aber fester Schritt hallt durch den Raum. Jemand tritt ein. Ein kalter Windzug begleitet ihn. Die Tür fällt mit einem dumpfen Geräusch zurück ins Schloss, sperrt die Realität aus. Der Geruch – abstoßend, fast vertraut. Eine Mischung aus Schwefel, süßlicher Note und einer Vielzahl ungezählter Konfrontationen der Vergangenheit. Ein Schauer fährt ihm den Rücken hinunter. Michael will sich umdrehen, will wissen, wer da hereingekommen ist, doch im selben Moment springt sein Partner auf. Unvermittelt zieht er die Waffe, zielt und schießt. Mehrere Schüsse knallen durch den Raum. Und mehrere Projektile treffen das überraschte Ziel. Michael rutscht von der Bank, zieht seine Dienstwaffe und zielt kniend in die Richtung, in die sein Partner vor wenigen Momenten noch geschossen hat. Adrenalin pumpt durch seinen Körper. Seine Atmung ist schnell und unkontrolliert. Das Herz rast. „Wo?“, brüllt er. Aber da ist es – das Ziel in elegantem Schwarz liegt regungslos am Boden.
Jessie kommt aus der Küche geeilt und erblickt Michael zuerst – kniend, mit seiner Waffe in der Hand, fokussiert, zielend. Sie erstarrt. Der Anblick zieht ihre Seele in einen finsteren Strudel. Ihr Herz schlägt wie ein unaufhaltsames Trommelfeuer. Der Raum, der noch vor wenigen Minuten der Ort eines harmlosen Gesprächs war, fühlt sich plötzlich wie ein Labyrinth aus Angst an.
Angst. Echte Angst.
„Marty!“ ruft sie verängstigt, während ihr Körper von einem Impuls beherrscht wird, der sie zwingt, sich zurück in die Küche zu schleichen. Ihre Beine fühlen sich schwer an, als ob sie in Eiswasser waten müsste, und die Luft um sie herum ist plötzlich so dicht, dass sie kaum atmen kann.
„Wir müssen hier raus. Jetzt!“
Marty, der eben noch mit dem Rücken zur Tür stand und sich von der plötzlichen Wende der Ereignisse ablenken ließ, dreht sich nun um. Ein Blick auf Michael, ein kurzer Moment des Zögerns – dann reißt er die Hintertür auf. Kalte Nachtluft strömt in den Raum und mischt sich mit dem Beben ihrer Atmung. Jessie ist schon einen Schritt voraus, als ein letzter Blick das Gefühl gibt, die Realität selbst würde sich gegen sie wenden. Beide fliehen in den Nebel der Dunkelheit, der wie ein schützender Schleier auf die wartet. „Ich rufe direkt die Polizei!“ Marty zieht hastig sein Handy aus der Tasche, während sie in den Nebel der Dunkelheit fliehen. Es ist 02:48 Uhr.
„Was … was passiert hier?“, brüllt Michael seinen Partner an, doch dieser reagiert nicht. Die Waffe bleibt in seiner Hand, das Ziel weiterhin im Visier. Ein eisiger Blick, so hart, so unnahbar, dass es scheint, als würde selbst der Tod davor zurückschrecken, sich nun zu zeigen.
Das leere Magazin seiner Waffe wird per Knopfdruck ausgeworfen. Blind greift er nach der Reserve, steckt sie ein und zieht den Schlitten mit einem metallischen Klang zurück. Erneut ist die Waffe mit todbringender Mannstoppwirkung vollgeladen, der Partner aber weiterhin wie versteinert.
„Wie überaus … unhöflich“, durchbricht eine tiefe Stimme plötzlich die Stille. Michael erschrickt und fährt herum. Sein Arm reißt die Waffe hoch und auch er zielt nun auf … das, was eigentlich vor wenigen Momenten noch tot im Diner lag, aber nun breitbeinig und auf einen Gehstock stützend wenige Meter weg steht: ein in elegantem, vollständigem Schwarz gekleideter Mann, dunkle mittellange Haare mit sehr blasser, fast bläulicher Haut. Eine großflächige Tätowierung ist am Hals zu erahnen, und der Gehstock wird von einem weißen, schwach leuchtenden Kristall gekrönt. Seine Fingerkuppen sehen aus, als hätte er diese in schwarze Tinte getunkt. Am Ringfinger der rechten Hand ragt ein imposanter, silberner Siegelring hervor. Das Emblem darauf sieht alt aus. Sehr alt.
Die Zeit steht. Die Luft ist dick und man kann sich in ihrem unsichtbaren Netz verheddern. Niemand spricht. Und niemand weicht zurück. Dieser Song im Radio drückt auf den Raum. Der elegante Mann schaut nicht einmal auf die auf ihn gerichteten Waffen. Stattdessen lässt er seinen Blick ruhig durch das Diner schweifen. Er inhaliert die Lichter, Gerüche, Impressionen. Mit einer Handbewegung stoppt er die Musik. Einen knappen Moment lang trifft sich sein Blick mit Michaels – die Augen des Mannes sind tief, schwarz wie die Nacht draußen. Aber sie sind so unergründlich, als ob sie durch Raum und Zeit blicken könnten.
Mit einem Wimpernschlag steckt Michaels Partner präzise seine Waffe ein.
„Dieser hier nicht. Noch nicht.“, ertönt es von ihm bestimmend.
„Wie überaus … menschlich“, murmelt der Mann, und ein leichter Hauch von Amüsement liegt in seiner Stimme. „Wie ist der Kaffee heute?“
Michael zielt weiterhin mit nun zittrigen Händen auf diese elegante Kreatur. Diese deutet mit einem gelangweilten Gesichtsausdruck an, ob das denn sein müsse – liegt es doch auf der Hand, dass es nichts brächte. Sein Partner lässt kurz den Kopf hängen und atmet durch. Mit einer ruhigen, fast väterlichen Geste legt er seine Hand auf Michaels Unterarm. Zögernd, als würde er erst wieder zu sich finden, senkt Michael langsam die Waffe. Behutsam schiebt er sie sicher zurück in den Holster. Er schaut seinen Partner verwirrt an, als versuche er, etwas zu begreifen, das sich seinen bisherigen Erfahrungen entzieht.
„Michael.“, spricht er ruhig, beinahe sanft. „Das hier … das geht dich nichts an.“ Ruckartig und übermenschlich schnell fährt die Hand auf Michaels Stirn. „Nunc dormi!“ – wie auf Befehl schließen sich seine verdrehenden Augen. Er bricht in sich zusammen und schlägt hart auf dem Boden auf. Blut entkommt über eine Platzwunde am Kopf. Er schläft nun. Es ist 02:51Uhr.
„Mein Name ist Ariel. Und ich sehe dich.“, sagt er mit Entschlossenheit. „Ich bin das, was die Menschen als Schutzengel bezeichnen. Wir wachen über sie. Wir behüten sie. Und wir beschützen sie, wenn es notwendig wird. Wir hören ihre Gebete und tragen sie weiter, wenn sie darum bitten. Wir sind ihre Verbindung zwischen dieser Welt und der göttlichen.“
Die dunkle Gestalt nickt anerkennend. Mit einem exzentrischen Lächeln und einem eleganten Knicks quittiert der elegante Mann seine Worte: „Ich bin das älteste Wesen im Dienste Gottes. Ein Collector Animarum, wenn die Körner in der Sanduhr des Lebens vergeudet sind. Ich bin einer der Vielen. Wir geben den Toten Geleit, um die Seelen in den Himmel oder die Hölle zu führen. Du kannst mich Marduk nennen. Und ich sehe dich.“
„So sage mir, Marduk, warum bist du hier?“
Der düstere Mann neigt seinen Kopf leicht zur Seite, als würde er Ariel mit einem respektvollen, fast unterwürfigen Blick bestätigen. Ein kaum wahrnehmbares, schiefes Nicken folgt, das die Frage seines Gegenübers anerkennt, ohne jedoch seine Haltung oder Würde zu verlieren. „Gewiss doch, denn ich bin für ihn hier!“, und deutet auf den bewusstlosen Michael.
„Dieser hier“, betont Ariel und zeigt auf den schlafenden Körper, „ist heute nicht für dich.“
„Aber wenn ich mich recht entsinne, entscheidest nicht du, wer seine Seele zurückgeben muss.“ Marduks Augen verengen sich. „Er setzt die Termine – nicht du. Er. Seit Anbeginn der Zeit. Und wir alle folgen seinem häufig undurchsichtigen Plan. Und manchmal endet eine Reise und Erfahrung mit dem plötzlichen Erscheinen vor der Pforte des Seins. Da endet die Blaupause des Lebens schlichtweg – ohne Happy End.“
Ariel schließt für einen Moment die Augen. Er weiß zu gut, dass sein Gegenüber recht hat. Seit Jahrtausenden. „Aber ich sage dir: dieser hier nicht. Für gewöhnlich sehen sie uns oder unsere Arbeit nicht. Erst kurz vor ihrem Ende, wenn ihre Seelen die Zwischenstufe erreichen, um sich vom Körper zu lösen. Als er mich im Auto so unvermittelt und selbstbewusst ansprach … “
„Können wir dann endlich fortfahren?“, knurrt Marduk ungeduldig. „Mein Terminkalender platzt aus allen Nähten. Hierhin, dorthin, überall werde ich erwartet. Es werden so viele Seelen wie schon lange nicht mehr gesammelt. Und wenn das jedes Mal so lange dauert, geht der Hölle noch der Sprit aus.“ Marduk lacht. „Oder der Spaß, würde der dortige Abteilungsleiter sagen.“
Unerwartet schaut sich Marduk um. „Ah, dieser da!“ und geht an den Fensterplatz, um lässig mit beiden Zeigefingern auf den einzig verbliebenen Gast zu zeigen. „Siehst du diesen hier, Ariel? Den hätte ich jetzt bei der ganzen Verzögerung fast übersehen.“ Marduk legt behutsam eine Hand auf den Kopf des vor ihm schlafenden Menschen, beugt sich zu ihm hinab und flüstert „et anima tua nunc domum revertitur.“ Der Mensch schnellt empor und atmet mit weit aufgerissenen, hell aufleuchtenden Augen ein letztes Mal tief ein, bevor er tot auf den Tisch zurückfällt. Der Glanz in den Augen erlischt. Die Seele ist fort. „Ich liebe diesen Job – sie reagieren immer so spontan wie unterschiedlich.“
Ariel macht einen Schritt nach vorn und stellt sich schützend über Michael. Wie ein unsichtbares Schild breitet sich seine Präsenz aus, als ob er eine Barriere zwischen ihm und Marduk errichtet. Es ist keine flüchtige Bewegung, sondern eine bewusste, entschlossene Haltung. Sein Blick bleibt fest auf Marduk gerichtet. „Dieser hier wird es heute nicht.“
Marduk, der bereits den Blick auf den schlafenden Michael gerichtet hat, sieht Ariel an und schnaubt leise. Ein gefährliches Lächeln umspielt seine Lippen, als er den Widerstand registriert. Doch er macht keinen Schritt weiter – noch nicht. „Dieses jämmerliche Gebaren wird nicht ohne Konsequenzen bleiben. Vater wird …“
„Vater wird mich verstehen!“, unterbricht Ariel scharf. „Seine Offenbarung steht unmittelbar bevor. Das himmlische Reich steigt herab, und das Gericht ist nah. Die Prophezeiung erfüllt sich – die Rückkehr seines Sohnes ist unausweichlich. Und du weißt das, Marduk. Du spürst es.“
Marduks Lächeln verzieht sich zu einer finsteren Fratze. „Oh, ich spüre vieles, Ariel. Zum Beispiel, dass Er sich nicht noch einmal für tausend Jahre binden lassen wird.“ Sein Blick verengt sich. „Mein Gebieter hat eigene Pläne für dieses Reich – und sie lassen sich nicht aufhalten.“ Er leckt sich langsam über die dunklen Lippen. „Aber wer zählt schon so genau nach? Ein paar Jahre mehr, ein paar Seelen weniger …“
Dann geschieht es. Ohne Vorwarnung schnellen seine Hände vor, schneller als das menschliche Auge folgen könnte. Ein pechschwarzer Schimmer zuckt durch die Luft, als er mit brutaler Kraft nach Ariels Brust greift.
In einem einzigen Augenblick verschwimmen die Umrisse ihrer Gestalten. Ein Riss zerreißt die Realität. Ein donnerndes Krachen erschüttert die Luft – dann absolute Stille.
Beide sind verschwunden.
Michael öffnet die Augen. Der Kopf dröhnt höllisch. Langsam rappelt er sich auf alle Viere. Blut tropft zwischen seine aufgestützten Hände, die sich in der Lache am Boden verschmieren. „Ruhig, mein Freund“, hört er eine fremde Stimme sagen. „Die Sanitäter sind gleich wieder bei dir. Tief durchatmen. Dich hat es ziemlich erwischt. Hier, leg dir das in den Nacken.“ Michaels Kopf dreht sich zur Seite. Er sieht verschwommen einen Polizisten, der ihm ein Handtuch mit Eiswürfeln reicht.
„Wo … wo …“, stammelt Michael kraft- und orientierungslos.
Ein Funkgerät knackst. „Einheit Zwo-Vier an Zentrale, wir haben einen Zehn-7B. Sanitäter vor Ort. Code 4.“ „Verstanden, Zwo-Vier.“, hallt es direkt zurück.
„Wo …ist …“, aber Michael bekommt seinen Kopf nicht sortiert. Er zögert. Atmet schwer.
Ein schwarzer Leichensack wird von zwei Polizisten hinausgezogen. „Siehst du den armen Kerl da? Der starb da drüben am Tisch. Herzinfarkt.“ Der Polizist schnippt mit den Fingern in die Luft. „Einfach so. Armer Teufel. Manchmal endet das Leben schlichtweg – ohne Happy End.“ Er mustert Michael kurz und seufzt. „Du hast uns hier einen ganz schönen Schlamassel eingebrockt. Die Leute da draußen“, und deutet auf Jessie und Marty auf der Straße, „haben gesagt, du hättest im Diner plötzlich deine Waffe gezogen – einfach so. Und dann wärst Du kurz darauf zusammengebrochen und hast dir etwas unsanft den Kopf aufgeschlagen. Kannst du mir das erklären?“
Michael packt energisch den Arm des Polizisten und schaut ihm eindringlich in die Augen: „Wo … ist mein Partner?“
„Dein Partner?“, wiederholt der Polizist mit einem Stirnrunzeln. „Michael … du bist allein hier – wie jedes Mal.“
Neonlicht flackert draußen auf dem nassen Asphalt. Es ist 02:53 Uhr.
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