Das Verhör
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Ein abgelegenes Waldstück, im Nichts gefangen, zehn Meilen vor der Stadt. Der Horizont kündigt es an: Ein Gewitter zieht auf. Es grollt und grummelt in der Ferne – dumpf und bedrohlich. Für Sekundenbruchteile hellt es auf, dann verschlingt die Dunkelheit alles erneut. Scharfe Blitze zucken durch den Himmel, spalten für Augenblicke die Nacht. Der finstere Nachthimmel hat seine Schleusen geöffnet. Regen prasselt unaufhörlich auf den Asphalt der Straße. Unzählige Regentropfen verschmelzen unermüdlich zu Pfützen, zu Strömen.
Ein leistungsstarker Motor zerreißt die Nacht. Idylle und Technik ergeben ein ungleiches Paar, prallen aufeinander und zersplittern. Ein Lichtkegel huscht zwischen den Bäumen abseits der Straße hindurch, vertreibt die Schatten. Äste und Sträucher werfen bizarre Silhouetten, fliehen angsterfüllt in die Nacht, aufgeschreckt in ihrem düsteren Dasein.
Ein Transporter rast durch die Nacht und macht schnelle Meter in Richtung Stadt. Ein schwarzer Koloss, ein Ungeheuer auf vier Rädern. Die weiße Aufschrift trägt die Nummer „GAT-08“. Es prangt auf dem Dach und an der Doppeltür hinten. Vorn zwei Sitze – für Fahrer und Schütze. Hinten finden bis zu sechs Personen Platz. Blickdicht. Schallisoliert. Kugelsicher – eine mobile Festung.
Metall kreischt, das Getriebe scheppert. Der Gang findet seinen Weg ein weiteres Mal nicht.
„Ruhig, Mendez, wir sind fast da!“, mahnt der Beifahrer seinen Nebenmann mit kritischem Blick als er sich aufgrund der ruppigen Fahrweise am Armaturenbrett abstützt.
„Leck mich, Johnson!“, platzt es forsch aus Mendez heraus, die Worte wie ein Schlag. „Haben sie diese Bestie gesehen? Dieses Ding … mit all den Ketten? Seine Augen … diese unheimlichen Augen. Das ist … kein Mensch.“ Er greift nach dem hölzernen Kreuz Jesu Christi, das mit einem Rosenkranz an der Mittelkonsole baumelt. Seine Finger zittern, als sie über die kleinen Holzkugeln gleiten. „Kein Mensch ...“, flüstert er unheilvoll, als ob er sich selbst überzeugen wolle.
Mit einem Ruck schiebt Johnson den kleinen Sichtschutz in der Zwischenwand zur Seite – ein Blick auf die Ladung. Das schwache Licht im hinteren Fahrzeugteil schaltet sich ein. Die Lampe wippt. Da ist der Mann. In fester Umklammerung aus Korsett und Eisen. Mehrere Schlösser verbinden Ösen mit Ketten, die dumpf immer wieder gegen Metall schlagen. Fest verbunden mit der Fahrzeugwand. Und dennoch sitzt er da lässig – beinahe überheblich. Seine Hände, fest mit breiten Kabelbindern umschlossen, ruhen in seinem Schoß.
Sein Kopf wird von einem schwarzen Sack umhüllt. Polizei-Standard. Eingesetzt, wenn Gefangene als besonders gefährlich gelten. Oder brutal. Blickdicht, jedwede Identität verschluckend. Sein Kopf ist nach hinten gelehnt. Er ist etwa 1,85 m groß, muskulöser Oberkörper. Die schwarze Hose strafft sich am Oberschenkel und bildet einen schützenden Schirm über den eleganten Business-Schnürern. Das weiße Hemd klafft am Hals auf, die weiße Krawatte hängt schlaff wie ein zerfledderter Faden. Die Ärmel sind präzise über den Ellenbogen hochgekrempelt. Auf seiner Haut ziehen sich großflächig aufwendige Tätowierungen alter Schriftzeichen – das Blut hat sie jetzt zu einem verwischten Gemälde gemacht. Eins geworden mit seinem oder dem Blut der getöteten Kollegen. Zwei mattschwarze Ringe an der rechten Hand wirken wie Signaturen dunkler Omen. Sein Daumen umkreist diese spielerisch. Johnson kann seinen Blick von ihm nicht abwenden.
„Ja ja ja …“, erklingt es, die Stimme träge, fast lasziv. Ein Atemzug, tief und lang, als koste ihn jede Silbe Überwindung – oder als gäbe er ihnen bewusst Gewicht. „Bin ich. Ja, habe ich. Nein, diese nicht. Durchaus. Nur für jenen einen noch. Und weil ich es euch gestattet habe.“ Dann hebt er den Kopf. Ein Impuls. Eine Bewegung, die kein Geräusch macht, aber alles verändert.
Er blickt. Nicht mit Augen, sondern mit etwas dahinter. Der Sack bleibt schwarz. Und doch ist es, als wäre er durchsichtig geworden. Johnson spürt den Blick, bevor er ihn denken kann. Eiskalt. Schwarz. Ohne Boden. Ein Schauer kriecht ihm die Wirbelsäule hoch, setzt sich fest wie Frost. Unerbittlich.
„Hallooo, Officer Johnson – sind wir schon daaa?“ Die Stimme klingt sanft, beinahe freundlich – doch jeder Laut wirkt gezielt gesetzt, überbetont. Die Vokale dehnen sich genüsslich aus, als wolle er jede Sekunde auskosten – oder sie quälend verlangsamen. Es ist keine Frage – es ist ein Spiel.
Plötzlich reißt der Mann seine Arme hoch – eine schnelle, unvorhersehbare Bewegung, wie ein Zucken aus tiefster Dunkelheit. Die Ketten schnappen und halten ihn, als er seine Hände krampfhaft zu einem Würgegriff formt. Ein markerschütterndes Klirren übertönt sogar das Motorengeheul. Johnson fährt erschrocken zurück, seine Hand schießt instinktiv zur Waffe. Für einen Wimpernschlag hängt die pure Bedrohung in der Luft. Dann, ebenso abrupt, kehrt wieder Stille ein. Als sei nichts geschehen. Das Monster wird gehalten.
Er beginnt unter dem Sack zu lachen. Zuerst leise, dann steigert es sich zu einem lauten, aufgeregten Lachen – exzentrisch, fast manisch, als wäre der Wahnsinn selbst in seinen Adern. „Halt dein dummes Maul!“, brüllt Johnson, der Zorn in seiner Stimme so greifbar wie die Wut, die in seinem Innern brodelt. Er schiebt den Sichtschutz zum Transportraum wieder zu. „Los, fahr!“, faucht er Mendez an. „Ich habe nicht gerade wenig Lust, diesem Widerling hier im Wald eine Kugel zu verpassen.“ Mendez nickt. Doch Johnson verschweigt ihm den Gedanken, der sich wie ein Schatten in seinem Kopf festsetzt: Woher kennt dieser Bastard seinen Namen? Er kann nur das Namensschild auf der Uniform gelesen haben. Beim Reinsetzen. Nur das Namensschild. Ganz sicher. Oder … doch nicht?
Das Gewitter tobt über der Stadt. Eingebettet zwischen den schroffen Ausläufern der Shadow Ridge Hills und dem endlosen Dickicht des Ravenpine National Forest, liegt Night Hollow, Oregon, wie ein vergessenes Flüstern zwischen den Seiten eines alten Buches. Dichte Wälder, nebelverhangene Landstraßen und ein Himmel, der selten ganz klar wird – hier endet die Zivilisation und es beginnt das, wofür Karten keine Worte haben.
Im 20. Jahrhundert war dies die florierende Hochburg für Rüstungsgüter im Zweiten Weltkrieg, später für Schwerindustrie. Unzählige Arbeitsplätze und eine Viertelmillion Einwohner – ein Kraftzentrum mit entsprechendem Polizeiapparat. Das alte Stahlwerk und die verlassene Schiffswerft – jetzt ein beliebter Ort für Riten, Leichenfunde und Dinge, über die nicht gesprochen wird – am Darkwater River, der in den Lake Eira mündet, sind Relikte aus den Tagen vor Umweltauflagen, Globalisierung und Korruption.
Der Stadtkern ist geprägt von alten viktorianischen Häusern, verblichenen Schildern, rostigen Tankstellen und kleinen Diners, in denen der Kaffee immer nach Asche schmeckt. Die Seitenstraßen verlieren sich schnell in namenlosen Pfaden, die irgendwo im Nirgendwo enden. Laternen flackern dort, wo sie überhaupt noch leuchten.
Night Hollow hat den Ruf, Dinge zu verschlucken – Erinnerungen, Menschen, ganze Nächte. Wenn ein Sturm aufzieht, klingt der Wind wie eine Warnung. Die rund 37.000 Bewohner sind freundlich, aber reserviert. Wer neu in die Stadt kommt, wird höflich empfangen – und mit stummen Blicken gemustert. Es ist kein Ort, an dem man strandet – es ist einer, in den man gerufen wird. Doch nicht jeder, der kommt, geht auch wieder.
Der Regen hält sich nicht mehr zurück. Langsam rollt der Transporter auf ein Gebäude zu, dessen riesiges, dunkelblaues Tor bereits offen steht. Es ist ein grauer, gedrungener Betonbau aus den späten 70ern, der ein Stück außerhalb des Zentrums ruht: das „NHPD“ - oder auch „Night Hollow Police Department“. Funktional, unfreundlich, flurbeleuchtet mit grellem Neon, das brummt, wenn es regnet – also fast immer. Der Funkempfang ist schlecht, die Telefonleitungen rauschen, und jeder Cop dort hat mehr Geschichten auf der Seele als in Dienstberichten erwähnt wurden. Es wurde nie zurückgebaut. Offiziell, wegen regionaler Verantwortung für Umlandgemeinden – inoffiziell, weil es Spezialeinheiten für Gefahrgut, Sektendelikte und Forensik gibt. Den heutigen Ruf hat es sich für seine Spezialverhöre erarbeitet. Denn die Leute hier wissen, dass man manche Dinge besser „anders“ fragt – aber noch weniger davon aufschreibt.
Es ist kurz nach Mitternacht als der Transporter zum Stehen kommt. Das riesige Tor fährt langsam zu. Metallene Verriegelungen schieben sich in die Konstruktion, das Quietschen frisst sich durch den Lärm des Regens und rastet schließlich ein – hart und endgültig. Ein uniformierter Mann in fester Regenbekleidung nähert sich der Fahrerseite. Mendez kurbelt das Fenster herunter.
„Hey Leute, ihr bringt uns also dieses Prachtexemplar. Wir haben schon gehört, was in Shire los war. Oh man, wisst ihr schon, wen es erwischt hat?“
„Borrow, Hawkins und, ich glaube, Anderson. Die anderen beiden … keine Ahnung.“, mischt sich Johnson ein und winkt dem Posten mit einer freundlichen Handgeste zu. Mendez presst die Lippen zusammen, nickt nur, ohne ein Wort zu sagen.
„Verdammt, was für ein Monster. Heute Abend ist nur Jefferson da. Der wird diesen Wichser richtig zermalmen.“
„Das hat dieser Scheißkerl mehr als verdient!“, schnauzt Mendez und schlägt mit der Faust laut auf die Zwischenwand. Der Aufprall hallt durch den Transporter. „Das waren gute Männer. Gute Männer. Und dieser Hurensohn ...“ Mendez bricht mitten im Satz ab, die Worte ersticken in seiner Kehle. Seine Hand zittert, als er sich die Wut von der Stirn wischt. Ein kurzer, schmerzlicher Moment – dann ist er wieder der stoische Mendez, der nicht will, dass man sieht, wie sehr ihn das alles zerreißt.
„Wir kümmern uns – das ist für die Jungs!“, sagt der Posten mit einem süffisanten Lächeln.
„Ja, für die Jungs!“, ergänzt Johnson.
Der Posten gibt ein Handzeichen in die Dunkelheit. Das Flutlicht des Innenhofs schaltet sich ein und leuchtet den kleinsten Winkel aus. Der Transporter steht an einem zentralen Punkt auf einer geschlossenen Betondecke. Umgeben von hohen Betonwänden. Verstärkt mit Anti-Personen-Draht, Bewegungssensoren. Drei Scharfschützen haben unbemerkt Stellung bezogen. Alle drei zielen per Laser auf die Hintertür.
Eine Einheit trabt hörbar heran, ihre Schritte schwer und präzise auf dem nassen Beton. Einheitlich große Polizisten in solider Schutzkleidung, jeder ausgestattet mit einem Schlagstock, der im flimmernden Licht der Flutlichter glänzt. Diese Jungs lädt man nicht an einem Sonntag privat zum Barbecue ein – nur, wenn sie das Tier vorher eigenhändig erlegen durften. Ihre Körper sind von jahrelangem Training geformt, und ihre Blicke sind fokussiert, als ob sie jede einzelne Bewegung berechnen könnten. Sie sind mehr als nur Polizisten – sie sind die Hand der Justiz, die für das, was sie tun, keinerlei Entschuldigung erwartet.
Sie gehorchen Befehlen wie keine andere Einheit auf der Welt, ein kaltes System, das die Härte der Realität widerspiegelt. Und doch gibt es in ihren Augen keine Freude, keine Zufriedenheit – nur die geschulte Disziplin, die sie in die Reihe und auf ihre Mission führt.
Der Posten nickt ihnen knapp zu, als sie an ihm vorbeimarschieren. Niemand spricht. Die Luft fühlt sich dicker an, als sie an dem Transporter vorbeiziehen, und auch der Regen wirkt plötzlich weniger wichtig. In dieser Welt gibt es keine Zufälle.
Die hinteren Türen des Transporters werden mit einem grollenden Geräusch aufgerissen. Zwei der Männer treten ein, der Klang ihrer Stiefel auf dem harten Boden hallt durch den engen Raum. Mit einem Blitz ziehen sie die Schlagstöcke und setzen zu, als wären sie auf eine längst geübte Bewegung programmiert. Die ersten Schläge prallen auf den Mann, der nur leicht mit dem Oberkörper zuckt. Seine Ketten rasseln, als er sich nicht einmal im Ansatz gegen den Sturm der Gewalt wehrt. Ein leises, gedämpftes Stöhnen entweicht ihm, doch mehr lässt er nicht von sich hören – kein Fluchen, kein Aufschrei. Nur Stille, die die brutale Szene umgibt. Das Gewicht der Schläge schaukelt den Transporter, seine Wände vibrieren unaufhörlich, als die Männer weiter zuschlagen.
Mendez und Johnson blicken sich an, dann schweift ihr Blick zum Posten. Der steht regungslos an der Fahrertür, seine Haltung wie aus Stein gemeißelt. Mit glanzlosen Augen starrt er durch beide Männer hindurch. Unbeweglich. Regungslos. Er spielt seine kalte, berechnende Rolle. Ohne einen Muskel zu zucken, blickt er geradeaus, während der Klang der dumpfen Schläge und das Rasseln der Ketten das einzige sind, was von der Außenwelt übrig bleibt. Minuten verstreichen.
Die beiden Disziplinare steigen aus dem Transporter. Ihre Atemzüge sind schwer. Der ausgestoßene Atem verdampft fast sofort in der feuchten Nachtluft. Erschöpfung ist im Außenspiegel zu erkennen – verschwitzte Gesichter, Abstützen auf den Oberschenkeln und das angestrengte Durchpusten. Zwei weitere Männer dieser Einheit betreten den Innenraum des Transporters. Keine Schläge mehr. Nur das Klingeln der Ketten, das Klirren von schweren Schlössern, die sich in den Innenraum ergießen. Langsam heben sie den Gefangenen von seiner Bank, stützen ihn zwischen sich und schleifen ihn zum Fahrzeugende. Dort stoßen sie ihn hinaus, und er fällt blutüberströmt auf den Beton. Wortlos packen zwei andere Männer zu, stellen ihn aufrecht, obwohl er sich kaum halten kann. Die roten Laser-Zielhilfen der Scharfschützen fixieren ihre Punkte auf dem Oberkörper.
Ein weiteres Team-Mitglied tritt unerwartet hervor, reißt den schwarzen Sack vom Kopf des Gefangenen. Die Platzwunden am Kopf werden sichtbar, das schwarze Haar klebt in einem übelriechenden Gemisch aus Blut und Schweiß. Die Nase scheint gebrochen, ein Auge schwillt bereits zu und sein Gesicht ist von Blut überzogen. Sein Kopf hängt kraftlos herab, als ob er sich auf den Boden fallen lassen wolle. Doch dann, überraschend, hebt er seinen Kopf. Die blutunterlaufenen Augen des Gefangenen treffen die des Mannes, der ihm den Sack abgezogen hat. Das Team-Mitglied tritt näher, starrt ihm angewidert in die Augen. Der Gefangene, kaum fähig zu stehen, spuckt ihm eine dicke Mischung aus Blut und Hohn auf das Schutzvisier, von welchem es ekelhaft verläuft. Mit einem schmerzverzerrten Grinsen krächzt er: „Was für ein Spaß! Wir hören schon auf? Das sollten wir wiederholen.“
Die knappe Kopfbewegung des Angespuckten wirkt wie ein Kommando für die anderen. Die Einheit entfernt sich vom Transporter, schleift den Gefangenen zwischen sich in Richtung Gebäudeeingang. Die Scharfschützen folgen der Gruppe, ihre Positionen exakt, die Zielhilfen immer noch auf den Körper des Mannes gerichtet. Als alle hinter der Tür verschwinden, schaltet sich das Flutlicht ab. Die Laserpunkte verblassen im Nichts. Regen prasselt auf die Regenbekleidung des Postens sowie auf den Transporter. Das Eingangstor entriegelt sich und öffnet sich für die Ausfahrt.
„Für die Jungs … wie erwähnt. Kommt gut heim!“, sagt der Posten, dreht sich dann scharf auf der Stiefelspitze und schreitet in Richtung einer Nebentür, sein Schritt militärisch und präzise.
Mendez schaut Johnson an, eine Augenbraue schiebt sich hoch. „Ein Bier?“, fragt er.
„Ja, ein Bier.“, antwortet Johnson trocken, und die beide stoßen mit geballten Fäusten die Hände aneinander, eine stumme Übereinkunft. Abfahrt.
Mehrere Vehörzimmer, mit römischen Zahlen durchnummeriert, grenzen mit schwerer, schalldichter Tür an einen dunklen Flur. Am Ende des Ganges tanzt ein Neonlicht, dass zu fehlender Musik pulsiert, aber dabei immer völlig aus dem Takt zu geraten scheint. Der Drehknauf ist goldfarben. Abgenutzt von unzähligen Händen. Ein kleines Sichtfenster in der Tür lässt einen Blick in den Raum zu, ohne dass man die Tür öffnen muss. ‚VI‘ steht auf seiner Tür. Der Raum ist in Dunkelheit gehüllt, als sie die Tür öffnen. Jemand zieht den Stuhl aus Aluminium unter dem Tisch hervor und die Männer lassen den Gefangenen wie einen nassen Sack darauf fallen. Schnell verschwinden sie, ziehen die Tür hinter sich zu und lassen sie mit einem Klick ins Schloss fallen.
Stille. Ein Benzin-Feuerzeug wird geöffnet. Sein typischer Klick-Ton hallt durch den Raum, der Feuerstein wirft seine Funken und entzündet den Docht. Die flackernde Flamme durchbricht die Dunkelheit. Eine Zigarette wird angezündet. Erneut klickt es und die Flamme erlischt. Das Glimmen am Ende fließt in die Stille, während jemand langsam am Filter zieht. Die Zigarettenglut leuchtet hellrot auf. Jemand atmet den Rauch tief ein, um ihn genüsslich einzusperren. Mit einer flinken Handbewegung wird die Zigarette gedreht und dem Gefangenen angeboten. Die blutüberströmten Hände nehmen dieses Angebot an – auch er zieht daran.
„Du kannst sie behalten.“, spricht eine feste Stimme plötzlich. Wie auf Kommando schaltet sich eine leichte Beleuchtung im Raum ein. Mehrere Lampen, verborgen hinter Drahtkäfigen, tauchen alles in ein fast schon intimes Licht. Die Augen des Gefangenen brauchen einen Moment, um sich an die Helligkeit zu gewöhnen. Dann erkennt er die bestialischen Fotos auf dem verbeulten Aluminiumtisch. Ein zufriedenes Lächeln huscht über sein Gesicht und die Brust schwillt derart an, dass er sich mit einer Mischung aus Stolz und Trotz aufrichtet. Sein … Meisterwerk. Genüsslich und übertrieben zieht er erneut an der Zigarette. Er blinzelt gegen das matte Licht, das den Raum in warmes, trügerisches Gold taucht. Seine Augen, blutverklebt und geschwollen, fokussieren langsam die Gestalt ihm gegenüber.
Dort sitzt ein Mann, breit gebaut, mit einer Präsenz, die nicht angeschrien werden muss, um sich Gehör zu verschaffen. Sein weißes Hemd ist locker über die Hose getragen, leicht zerknittert vom Tag, aber ohne einen einzigen Schmutzfleck. Über der Brust hängt, fast demonstrativ, seine Dienstmarke – direkt daneben ein kleines, goldenes Kreuz, das im schwachen Licht aufblitzt. Darunter, halb verborgen von Stoff, zeichnet sich die Kontur einer alten, runden Schussnarbe ab – verheilt, aber nicht vergessen.
Er trägt eine moderne, leicht ausgewaschene Jeans, an den Knien ausgeblichen. Seine Sneaker haben bessere Tage gesehen, doch sie verraten einen Mann, der nicht für Show arbeitet – sondern fürs Resultat. Das Schulterholster spannt sich über den Rücken. Während Ersatzmagazine auf der rechten Seite hängen, steckt in der linken Seite griffbereit die Zuverlässigkeit, ein Leichtbau mit Polymerrahmen, mit hoher Magazinkapazität und Kaliber 9 mm – seine Dienstwaffe, eine Glock 19. Eine Waffe wie er: funktional, kompromisslos, verlässlich. Und seine kleinen Freunde aus Messing, die er zielsicher einsetzt, rennen alle schneller als jeder Verbrecher es je könnte.
Er trägt keinen Schmuck, keine Spielereien – nur eine Uhr am einen, und sechs schlichte, abgewetzte Lederbänder am anderen Handgelenk.
Sein Gesicht ist kantig, vom Leben gezeichnet. Dunkelblonde Haare, straßenköterfarben, zurückgestrichen. Keine Piercings, keine sichtbaren Tattoos – aber unzählige kleine und große Narben, die seine Haut kartografieren wie Erinnerungen an vergangene Schlachten. Seine Augen sind hell, fast schon stechend, aber ruhig. Beunruhigend ruhig. Wie bei einem Mann, der weiß, wo er hinlangen muss, damit jemand aufhört zu atmen – oder anfängt zu reden.
Er sagt kein Wort. Er sitzt nur da. Beugt sich leicht nach vorn. Eine Hand auf dem Tisch, die andere ruht locker auf seinem Bein. Auf dem Tisch: Der Tatort in Fotos gebannt. Gewalt. Grausamkeit. Tod. Das Werk des Gefangenen für die Ewigkeit festgehalten. Doch dieser Mann da … wirkt nicht erschüttert. Nicht wütend. Nur … bereit. Bereit für die Wahrheit. Oder für das, was davon übrig ist.
„Ich bin Detective Caleb Jefferson. Die Sauerei, die du hier vor uns auf den Fotos siehst, ist dein Werk am heutigen Abend in Shire. Wir haben dich hierher gebracht, damit der dortige Sheriff … ah, Moment ...“, und seine beiden Hände schnellen hervor, packen den Kopf des Gefangenen und rammen diesen mit maximaler Wucht auf den Tisch. Der laute Knall hallt durch den Raum, der Kopf des Gefangenen schlägt mit voller Wucht auf die verbeulte Aluminiumoberfläche. Sekundenlang bleibt alles still, als ob selbst der Raum den Atem anhält. Jefferson setzt sich wieder, ohne den Gefangenen aus den Augen zu lassen, und fährt fort, als wäre nichts geschehen: „... ja, sich um die Witwen und Waisen nun kümmern kann. Du Stück Scheiße hast fünf unserer Jungs abgeschlachtet, bevor wir dich eintüten konnten.“ Die Pause zwischen seinen Worten ist drückend. Er sieht, wie der Gefangene schwer atmet, wie seine blutigen Augen ihn anstarren, doch Jefferson lässt sich nicht von seinem Blick beeindrucken.
„Was hast du dir dabei gedacht, hm?“ Seine Stimme ist ruhig, aber die Spannung ist greifbar. „Du bist in Shire wie ein tierisches Ungeheuer durch die Straße gezogen, hast unsere Leute zerfetzt. Jetzt bist du hier, und die Sache endet nicht so, wie du es dir vielleicht vorstellst.“ Er lehnt sich weiter nach vorn, bis seine Hände den Tisch berühren. „Also, wie wäre es, wenn wir über deine … `Definition von Spaß` sprechen?“
Immer noch leicht benommen schaut der Gefangene Jefferson an. Ein überhebliches Grinsen breitet sich allmählich über seinem Gesicht aus, während seine blutigen Lippen die Sicht auf seine makellosen Zähne freigeben. Er sammelt ein Gemisch aus Speichel und Blut im Mund zusammen, spuckt es theatralisch auf den Boden. Ein lauter Platsch ertönt. Er schaut Jefferson musternd an, als hätten sie für einen Moment in dieser Stille die Rollen getauscht. Doch der Blick seines gegenübers ist ruhig und geduldig. Er spürt das Gewicht der Situation und wartet, beobachtet jeden Zug des Detective. Dann – ein Nicken, langsam und fast belustigt. Der Gefangene schnippt die Zigarette präzise an Jefferson vorbei.
„Fangen wir damit an: ...“, beginnt der Gefangene unerwartet erstarkt in seiner Stimme. „Es ist ein Meisterwerk. Eine beinahe vollendete Komposition aus leidenschaftlicher Gewalt, Blut in all seiner Ergiebigkeit, erregender Qualen und der beißende Gestank toten Fleisches. Gewürzt mit einer Note Schwarzpulver – als Topping fünf Dienstmarken.“ Ein breites Lächeln erscheint auf seinem blutverschmierten Gesicht. Er lehnt sich zurück, schließt für einen Moment die Augen und inhaliert die Erinnerung, als ob sie ihn nährte, als wäre er der Dirigent eines grausamen Orchesters. „Ein wahres Meisterwerk, nicht wahr? Es hätte nicht besser laufen können.“ Die Worte tropfen wie Honig, süß und verdorben. „Sieh es dir an! Ist es nicht wunder-, wunderschön?“ Sein Gesicht verzerrt zu einer diabolischen Fratze. „SIEH ES DIR AN!“, brüllt er Jefferson an, um unmittelbar wieder zu einem sanften Ton zurückzukehren. „Sieh es dir ruhig noch einmal an! Sieh genau hin!“
Jefferson bleibt ruhig. Jede Ader in seinem Körper scheint mit Stahl überzogen zu sein, als der Gefangene vor ihm ausbricht. Der Detective ist davon unbeeindruckt. Die Worte prallen an ihm ab.
„Weißt du, was mich an dir fasziniert?“, fährt er fort, die Stimme jetzt ruhig, aber mit Kälte durchzogen. „Du bist mir gar nicht so unähnlich. Denn das hier ...“, er deutet auf die Fotos auf dem Tisch, „... das hier ist Freiheit. Keine Ketten, keine Bindungen, keine Dienstmarke, keine Hemmungen. Nur man selbst und das Chaos, was man erschafft. Und die Lust daran, sich zu suhlen.“
Der Gefangene lehnt sich wieder nach vorn, seine Augen glänzen vor triumphierender Freude, als er sich an die Erinnerung klammert. „Ein wahres Kunstwerk, Detective“, fährt er fort, seine Stimme wie ein Flüstern der Selbstgenügsamkeit. „Das einzig wahre Meisterwerk, das dieser verdorbene Ort je gesehen hat, war jedoch deines.“
Jeffersons Stirn zuckt. Nur ein Hauch – aber es reicht. Etwas in seinem Inneren rebelliert gegen das, was er gerade gehört hat.
„Erinnerst du dich noch an Kaitlin? Onzuki? Oder die süße Amber? Awww, ihr rotes Haarband hast du so lange in der alten Zigarrenschachtel deines alten Herrn unter dem Scheunenboden aufbewahrt. Kensington End, das dritte Tor, Balken 71, lose – aber du weißt ja, wo du es versteckst.“
Jefferson wird unruhig. Er kennt die Adresse. Und noch viel mehr als das. Er springt auf, zieht das Kabel der einzigen Überwachungskamera. Seine Hand verdeckt seinen Mund. Sprachlos? Oder … verhindert sie, dass er etwas dazu sagt?!
„Erinnerst du dich, wie sie am Anfang gerochen haben? Mmmhm, wie frischer Pfirsich im Sommerwind. Du konntest nicht widerstehen, nicht wahr? Du wolltest sie kosten. Probieren. Wieder. Und immer wieder. Wie von Sinnen. Im Rausch. Diese verbotene Frucht.“
Jefferson taumelt zurück, fällt mit dem Rücken gegen die Tür. Sein Verstand … dreht er durch? „Nein, hör auf! Das ist nicht wahr.“
„Sie haben so geweint. Und geschrien. Bis du ihnen die Kehle aufgeschlitzt hast. Das röchelnde Geräusch, wenn sie an ihrem eigenen Blut erstickt sind. Wie friedvoll du immer gelauscht hast. Wie war noch immer dieser Satz, den du dann sagtest?“
„Hör auf!“
„Nein, das war es nicht.“
„Lasst mich … lasst mich raus! Ich will raus!“
„Ja, das kam auch vor. Aber nein, das war es nicht. Für die Mädchen ist es bedeutungslos. Für mich nicht. Mein Name … ist Paimon. Ich bin die rechte Hand des Einen. Und meine Befehle sind eindeutig.“ Mit diesen Worten drückt der Gefangene seine beiden mattschwarzen Ringe ineinander. Ein Energiefeld baut sich auf und erhellt den gesamten Raum. Jefferson hält seinen Arm hoch, um seine Augen zu schützen. Das Energiefeld fließt wellenförmig über Paimons Körper, reinigt ihn, heilt ihn. Brüche und Prellungen sind fort, seine Tätowierungen sind klar erkennbar, das Hemd ist sauber und die weiße Krawatte exakt gebunden. Die Ketten lösen sich von den Gelenken, das Korsett zerbirst und fällt schwer zu Boden.
„Ah, jetzt ist es besser.“, betont Paimon erleichtert. Er lehnt sich zurück. Ruhig. Gelassen. Auf seinen Unterarmen: Bewegung. Die Tätowierungen kriechen, formen Worte. Wie ein Eigenleben. Sie ordnen sich immer wieder neu an, ergeben plötzlich deutliche Wörter für Jefferson. Lügner. Schänder. Mörder. Sie bauen sich abermals um. Schuldig. Schuldig. Schuldig.
„Es war nicht einfach, an dich heranzukommen. Du hast dich hier immer gut versteckt. Außerhalb der Reichweite unserer. Deine Fälle waren immer … sorgfältig ausgewählt. Es durfte kein lapidarer Mord sein, keine nebensächliche Vergewaltigung, kein islamistischer Trottel, der sich in Rough Row in die Luft sprengt. Nein. Für dich brauchte es etwas anderes. Etwas, das dich erregt. Etwas, das diese unruhige, dunkle Seite in dir aufweckt.“
Paimon grinst und seine Augen verengen sich, als er den Blick auf Jefferson richtet. „Dieses Fest. Dieses Chaos. Das ist es, was dich aus deinem Versteck, deiner Deckung, getrieben hat. Und so wurdest du mir nun buchstäblich serviert – hier, in diesem kleinen Raum, in dem wir ungestört plaudern können.“
Jefferson verspürt Angst. Er wird panisch. Seine Augen weiten sich.
„Jetzt spürst du es, nicht wahr? Wie dein Herzschlag deinen Hals zuschnürt. Deine Atmung viel zu flach ist und Dein Verstand … siehst du sie? Siehst du die kleinen zerhackten Körper, die du im Wald verscharrt hast? Was sagtest du dann immer? Sag es!“
„Geh weg … du bist nicht echt …!“ Jefferson zieht seine Waffe, richtet diese auf Paimon und feuert drei, vier Schüsse ab. Die todbringende Fracht durchdringt sein Gegenüber, wirkt aber nicht. Paimon steht auf, stemmt beide Arme auf den Tisch und fordert „SAG ES!“
Weitere Schüsse. Viele Schüsse. Doch alle Geschosse fliegen durch seinen Widersacher hindurch. Die Stimme von Paimon verfinstert sich zu einem tiefen, diabolischen Ton, während der gesamte Raum von einem schwarzen Schleier ausgefüllt wird. „SAG ES … EIN LETZTES MAL!“
Jefferson setzt die Glock an seine Schläfe. Tränen bilden sich in den Augen. Unsicherheit. Verzweiflung. Gebrochen antwortet er: „Was der Wald holt, bleibt dort.“
„Jetzt … triff nun den Einen – er wartet schon auf dich!“ spricht Paimon sichtlich zufrieden.
Der Blick wird leer. Jefferson presst die Lippen aufeinander. Küsst das goldene, kleine Kreuz um seinen Hals. Und drückt ab.
Der Körper sinkt leblos zu Boden. Stille. Nur das leise Tropfen seines Blutes auf das kalte Linoleum ist hörbar. Gegenüber – der Gefangene. Bewegungslos. Durchsiebt. Auf dem Tisch liegend. Der Kopf ist auf die Seite gekippt, die Augen weit aufgerissen, doch leer. Tot.
Dann – ein leichtes Flackern im Licht. Ein kaum sichtbarer Hitzeschleier über dem Tisch. Ein dunkler Nebel beginnt aus dem leblosen Körper des Gefangenen zu kriechen, entfernt Tätowierungen und Ringe. Langsam. Schwärzer als jede Dunkelheit im Raum. Er windet sich wie Rauch, der seinen eigenen Willen hat. Kein Geräusch, keine Eile. Nur Präsenz. Und dann entweicht er durch einen Spalt in der Wand – wie ein Fluch, lautlos, auf der Jagd nach dem nächsten Sünder.
Die Ampel schaltet auf Rot. Mendez bremst den Koloss, der Motor brummt tief, als käme das Grollen aus dem Bauch eines Tieres. Der Scheibenwischer verdrängt gleichgültig die Regentropfen. Niemand zu sehen. Nur der schwarze Schlund der Dunkelheit auf der anderen Seite der Kreuzung.
„Sieh mal!“, sagt Mendez und schaltet das Fernlicht ein. Ein Werbeschild tritt aus der Dunkelheit hervor.
Johnson blinzelt. „Was denn?“
„Night Hollow – Was der Wald hat, holen wir!“, liest Mendez.
Eine Sekunde Stille. Nur der Regen.
Johnson runzelt die Stirn. „Keine Ahnung, was das heißen soll … aber was sich der Wald holt, bleibt dort.“
Die Ampel springt auf Grün. Der Motor heult auf, und der Transporter zieht davon.
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